Intertextualität
in La parte de los crímenes in 2666 von Roberto Bolaño
Art der Uni-Arbeit: Haus- oder Seminararbeit
Fachrichtung: Literaturwissenschaft
Autor/-in: Rosa Teresa Fries
Der vierte Teil von 2666, La parte de los
crímenes, thematisiert die sogenannten femicidios in Ciudad Juárez
im Norden Mexikos. Opfer dieser seit 1993 anhaltenden, mit Vergewaltigung und
Folter einhergehenden, Mordserie sind vor allem junge Arbeiterinnen der großen,
in dieser Stadt ansässigen Fabriken. Diese weitestgehend unaufgeklärten
Verbrechen werden von Bolaño in 2666 fiktionalisiert, wobei der Bezug
zur Wirklichkeit unverkennbar besteht, da sich der Text sehr eindeutig auf
Ciudad Juárez bezieht. Diese Grenzstadt in Norden Mexikos heißt in 2666 Santa
Teresa. Sie besitzt dieselbe geographische Lage und die daraus resultierenden
sozio-ökonomischen Verhältnisse wie Ciudad Juárez und kann zweifellos als Kopie
dieser gelten. Neben vielen anderen Texten, die in 2666 aufgerufen
werden, ist es in La parte de los crímenes vor allem die Reportage Huesos
en el desierto, die als Intertext fungiert. Sie wurde von dem Journalisten
und Schriftsteller Sergio Gonzaléz Rodríguez verfasst, der selbst mehrmals nach
Ciudad Juárez reiste, um für die Zeitung Reforma über die femicidios zu
berichten, bevor er schließlich die Ergebnisse seiner Recherche in Huesos en
el desierto zusammenfasste. Diese Reportage changiert zwischen Analyse,
Essay und Augenzeugenbericht. Sie beleuchtet die Morde unter Einbeziehung
gesellschaftlicher Faktoren und thematisiert dabei die mangelhafte Intervention
von Polizei und Staat. Dialogisch inszenierte Berichte von Angehörigen und
detaillierte Beschreibungen der Örtlichkeiten verhelfen diesem Text zu einer
literarischen Dimension, ohne dessen Wahrheitsanspruch in Zweifel zu ziehen.
Bolaño, der selbst nie vor Ort war, bezieht sich in
La parte de los crímenes sowohl inhaltlich, als auch in seiner
erzählerischen Vorgehensweise auf diese Reportage. Er verwendet Details aus
verschiedenen Fällen, die Sergio González Rodríguez in Huesos en el desierto
präsentiert, um mit diesen neue,fiktive Morde zu konstruieren, die dadurch
eine starke Ähnlichkeit zu den realen Verbrechen aufweisen. Beispielsweise
berichtet Sergio González Rodríguez von einem Mädchen, das seinem Peiniger
entkommen konnte und in der Lage war, ihn zu denunzieren. In 2666 schafft
Bolaño einen ähnlichen Fall, doch gelingt es seiner Figur nicht, Hinweise auf
den oder die Täter zu geben, da das Mädchen kurz nachdem es ein Krankenhaus
erreicht, stirbt. Sergio González Rodríguez schildert zudem den Fall von Abdel
Latif Sharif Sharif, der als Mörder angeklagt, im Beisein von Journalisten
schließlich zwei Männer beschuldigt, die wahren Täter der femicidios zu
sein. Diese von ihm beschuldigten Männer sind Cousins. In 2666 ist es
Haas, ein Deutscher mit US-Staatsbürgerschaft, der im Gefängnis dem fiktiven
Sergio González und anderen Journalisten die Cousins Antonio und Daniel Uribe
als mutmaßliche Täter präsentiert. Haas, wie auch Sharif werden von den
mexikanischen Behörden als Sündenböcke benutzt, um ihre eigene Inkompetenz zu
kaschieren.
Die narrative Methode Bolaños von den Leichenfunden
zu erzählen, basiert auf den Angaben, die in Huesos en el desierto bezüglich
verschiedener Opfer gemacht werden. Die Beschreibungen der Opfer in beiden
Texten sind dabei streckenweise nahezu identisch. In 2666 erzählt ein
geradezu schockierend neutraler Erzähler von den tot aufgefundenen Frauen: die
vom Opfer erlittenen Verletzungen werden aufgezählt, die von der Frau
getragenen Kleidungsstücke benannt und die Position der Leiche beschrieben.
Bolaño nimmt diese Art der Beschreibung jedoch nur als Ausgangspunkt und
entwickelt sie zu einer narrativen Strategie weiter, durch die das Ausmaß der
Verbrechen, sowie die Indifferenz der ermittelnden Polizisten, als
Stellvertreter des Staates, illustriert werden. Die Reihung von Schilderungen
von Leichenfunden im Tonfall eines Polizeiberichts zeigt die Ähnlichkeit der
verschiedenen Fälle auf, wobei diese Erkenntnis zu keiner Konsequenz seitens
der staatlichen Behörden führt. Die ständige Wiederholung, sowie der
indifferente Tonfall des Erzählers verweisen klar auf die geringe Bedeutung,
die jedes Opfer für die Ermittler hat. Die Verbrechen sind für La parte de
los crímenes strukturbestimmend, da sie andere Handlungsstränge
unterbrechen (dies lässt sich ebenso gut andersherum denken insofern, als dass
die anderen Handlungsstränge die fortlaufenden Morde unterbrechen und deren
Existenz bzw. Narration zeitweise im Text verdrängen) und durch die schiere
Masse an Opfern die Gewichtung der verschiedenen Narrative dieses Teils von 2666
zu Gunsten dieses Handlungsstrangs verschieben. Durch die Fiktionalisierung
der Verbrechen und die narrative Anordnung werden die Ermittlungsprobleme
ausgestellt, die zum Teil aus den misogynistischen Klima, dass in Santa Teresa
vorherrscht, resultieren. Die anderen Handlungsteile von La parte de los
crímenes ergänzen diesen Leseeindruck, indem sie nochmals und auf
verschiedenen Ebenen den latenten Frauenhass verdeutlichen. Ein Beispiel dafür
sind die Witze, die sich die Polizisten untereinander erzählen, in denen Gewalt
gegen Frauen verherrlicht bzw. Teil der Pointe ist.( BOLAÑO, Roberto, 2666,
New York: Vintage Español, 2009 S. 689f.) Ebenso zeigt der von ihnen geprägte
Begriff der “violación por los tres conductos“( Ebd., S. 577) sowie die häufig
auftauchende Vermutung, dass es sich bei dem Opfer um eine Prostituierte
handelt und die daraus folgende Implikation, dass der Toten eine Mitverantwortung
an dem Verbrechen zukommt, dass es ihnen an Sensibilität und Empathie
mangelt. Es wird deutlich, dass eine derart geprägte Gesellschaft Verbrechen
dieser Art eher begünstigt, als verhindert.
Trotz der Verwendung sehr ähnlicher
Fälle ist Huesos en el desierto ist
nicht als bloßes Arbeitsmaterial für 2666 zu
verstehen, sondern wird von Bolaño explizit als Intertext aufgerufen. Besonders
deutlich wird die intertextuelle Beziehung beider Texte an Figuren, die Bolaño
der Wirklichkeit und damit dem Narrativ von Sergio González Rodríguez,
entlehnt. Diese teilen mit ihren realen Vorbildern Beruf, Nationalität und
Biographie und tragen zur starken Präsenz dieses Intertextes bei, wie die
folgenden zwei Beispiele zeigen: Nachdem die Inhaftierung von Haas nicht dazu
geführt hat, dass die Morde aufhören, wird Albert Kessler, ehemaliger FBI-Agent
und Experte auf dem Gebiet der Serienmorde, nach Santa Teresa eingeladen, um
zur Aufklärung der Verbrechen beizutragen. Bolaño nimmt mit dieser Figur, wie
schon durch die minimale Veränderung des Nachnamens deutlich wird, Bezug auf
den Kriminologen Robert K. Ressler, der dieselbe Berufsbiographie wie seine
fiktive Version besitzt. Ebenso wie Kessler in 2666
interessierte er sich für das Phänomen
der femicidios und
besuchte deshalb Ciudad Juárez, wie von Sergio González Rodríguez in Huesos
en el desierto berichtet wird, der ihn zudem in seiner
Reportage zitiert.
Noch deutlicher wird die Verbindung zum
Intertext in der Figur Sergio González, da Bolaño den Journalisten und Verfasser
von Huesos en el desierto selbst
auftreten lässt. In 2666 wird
dieser von der Zeitung La razón nach
Santa Teresa geschickt, um über el
penitente zu berichten, einen unbekannten Täter,
der Kirchen beschmutzt und im Zuge dessen zwei Menschen ermordet hat. Sergio
González ist Kulturjournalist in Mexiko-Stadt und übernimmt diese Aufgabe, da
er in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Zwar wird ihm bei seiner ersten
Reise nach Santa Teresa von einem der Priester über die Frauenmorde berichtet,
doch weckt dies sein journalistisches Interesse (noch) nicht. Erst circa 100
Seiten später tritt er wieder in Erscheinung, als er einer Prostituierten von
den Morden erzählt und sich bewusst wird, dass es vor allem Arbeiterinnen sind,
die zu Opfern der unbekannten Täter werden. Die Abstände zwischen seinen
Auftritten in der Erzählung verringern sich und er emanzipiert sich, in dem
Maße wie sein eigenes Interesse an den Verbrechen steigt, von seiner Rolle als
Nebenfigur. Er wird insofern wichtig für die Handlung, als dass er im Zuge
seiner Recherche mit verschiedenen Personen in Santa Teresa spricht, die so im
Dialog mit ihm die Möglichkeit haben, sich zu den Verbrechen und Problemen zu
äußern. Mittels dieser Figur gelingt es Bolaño, die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Stadt zu skizzieren und statistische Daten einzustreuen, ohne
deren Erwähnung vollständig einem allwissenden Erzähler überlassen zu müssen.
Deutlich wird dies beispielsweise an dem Gespräch des Journalisten mit der
Beauftragen der Abteilung für sexuelle Delikte, die ihm von der geringen
Arbeitslosenquote und der daraus resultierenden Einwanderungswelle vor allem
weiblicher Arbeitskräfte berichtet. Das Interesse des fiktiven Sergio González
zur Aufklärung der Fälle beizutragen, ist jedoch nicht stetig, sondern
schwankt. Er lässt sich beispielsweise bei der zweiten Pressekonferenz von Haas
durch einen Kollegen vertreten, um eine Rezension über die neue
lateinamerikanische Literatur zu schreiben. Später nimmt er seine
Recherchetätigkeit jedoch wieder auf und überzeugt seine Arbeitgeber davon, ihn
wieder nach Santa Teresa zu schicken. Er tritt erneut mit dem beschuldigten
Haas in Kontakt und ist bei der Leichenschau des Opfers Michele Sánchez
anwesend. Schließlich wird er von der Abgeordneten Azucena Esquivel Plata,
deren Jugendfreundin in Santa Teresa verschwunden ist, beauftragt, seine
Recherche zu intensivieren und seine Ergebnisse zu veröffentlichen, um die von
ihr vermuteten Seilschaften zwischen Politik, Polizei und organisiertem
Verbrechen aufzudecken. Dieser Auftrag beschließt La
parte de los crímenes, wenn man von einer letzten
Schilderung eines weiteren Leichenfundes absieht. Der Leser ist in der Lage,
die Leerstelle, die der Text so explizit offen lässt, zu füllen, indem er sich
vorstellt, dass das Ergebnis dieser Recherche im Auftrag von Esquivel Plata Huesos
en el desierto sein wird, da der Journalist, wie von
der Abgeordneten bemängelt, bislang noch keine bahnbrechenden Artikel über die femicidios
veröffentlicht hat. Die Publikation von
Huesos en el desierto muss
folglich nach den in 2666 geschilderten
Ereignissen stattfinden. Auf diese Weise enthalten sich La
parte de los crímenes und Huesos
en el desierto gegenseitig und stehen in einer
zirkulären Bewegung zueinander. In Borges'scher Manier erinnert Bolaño so
vielleicht auch daran, dass die Wirklichkeit aus verschiedenen Narrativen
aufgebaut ist und die Realität letztlich nur ein Teil der Literatur bildet.
Bolaño bildet die Wirklichkeit, d. h.
die stark misogynistischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft, die prekären
Arbeits- und Lebensbedingungen, die soziale Unzufriedenheit sowie den
Drogenhandel und das organisierte Verbrechen von Ciudad Juárez ab, indem er die
realen Geschehnisse fiktionalisiert. Durch die intertextuelle Relation zu Huesos
en el desierto hält 2666
die Verbindung zu den realen Verbrechen
in Ciudad Juárez aufrecht, da diese durch den starken
Intertext in La
parte de los crímenes präsent bleiben. Dieser Bezug zur
Realität verleiht den Schilderungen Bolaños zusätzlich an Bedeutung und
eröffnet die Möglichkeit, die Leser auf einer extra-literarischen Ebene zu
erschüttern, da die beschriebenen Morde sowohl innerhalb als auch außerhalb der
Fiktion stattfinden. Bolaño nutzt so die erzähltechnischen Möglichkeiten der Literatur,
ohne dass sein Narrativ auf Grund seines fiktiven Charakters etwas von der
beschriebenen Wirkung auf die Leser verliert. Die intertextuelle Beziehung zur
Reportage Huesos en el desierto, die
durch ihren journalistischen Anspruch dafür bürgt, reale Geschehnisse zu
berichten, macht dies möglich.
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